CASTINGALLEE

Der Fotograf Matthias David, den alle nur Matze nennen, ist wie Lucky Luke, nur, dass er statt eines Revolvers seine Nikon zieht, und, Gottseidank, seine Magersucht überwunden hat. Kennen sie dieses Meme, in dem unter der Überschrift „Vor Berlin“ eine junge Jennifer Aniston zu sehen ist und gleich daneben, mit der Headline „Nach 5 Jahren Berlin“, ein alter Iggy Pop? Dieses Buch zeigt die Gesichter in der Zeit dazwischen.

Es waren die frühen 2000er, als Matze die Ausbildung am renommierten Lette Verein beendete und damit anfing, sich seine Fotoobjekte zu suchen. In Berlin-Mitte und Prenzlauer Berg, unter Schauspieler_innen, Künstler_innen, Models, Trinkern, Comedians, Hängern und deren Anhängsel, kam ihm vor die Linse, wonach er suchte: Das rohe Berlin, gerne auch: Das nackte Berlin, hin und wieder: Das blutige Berlin.

Sein Element ist, klar, das Licht. Wo Lindbergh ein Schattenreich errichtet, erleuchten bei ihm Sonnenstrahlen und Blitze die Gesichter. Der Moment, den dieses Buch beleuchtet, ist die letzte Zeit, in der noch nicht jeder jederzeit mit einer Kamera bewaffnet und noch nicht jedes Haus in Berlin saniert war. In einer dieser unsanierten Bauten an der Kastanienallee gab es damals eine Wohnung, die Eingeweihte liebevoll Junkietown nannten, denn dort wurde noch gesoffen und gehurt; Entschuldigung: gelacht und getanzt, wenn der Rest von Berlin schon im Koma lag.

Susan Sonntag behauptete einmal „Der springende Punkt beim Fotografieren von Menschen ist, dass man sich nicht in ihr Leben einmischt, sondern es nur besichtigt.“ Meisterfotograf Matze David beweist ihr das Gegenteil: Er ist teilnehmender Beobachter durch und durch, lange bevor wir durch unsere Smartphones alle zu teilnehmenden Beobachtern wurden. Doch Matze hinterlässt uns keine verwackelten Pixelhaufen, seine Fotos sind keine Zufallsprodukte. Wie ein moderner Henri Cartier-Bresson wählt er blitzschnell Blende, Verschlusszeit und Quadrierung und drückt dann schneller und präziser ab als Chris Kyle, nur liebevoll statt tödlich.

Seine Bilder zeigen Partyszenen, Spontanportraits, Zeitschriftencover, Mode, Elend, Wahlplakate. Einen CDU-Politiker fotografierte er für dessen Kampagne einmal ohne geschlafen, geschweige denn überhaupt ansatzweise ausgenüchtert zu haben. Ob der Mann die Wahl gewann, ist nicht überliefert. Ist auch völlig egal, denn wir gewinnen, und zwar einen Rückblick in die Zeit, als sich die Kastanienallee ihren Spitznamen Castingallee verdiente.

Aus dem Nachwort von Niels Ruf.

Castingalle - Fotografien 2004 bis 2009, Matthias David, 30 x 24 cm, 160 Seiten, Vollfarbe, Fadenheftung, mit einem Nachwort von Niels Ruf und Texten von Johannes Finke, Robert Stadlober und Linus Volkmann.

VÖ 08.11.2021, Auslieferung ab 01.11.2021

ÜBER MATTHIAS DAVID

Matthias David wurde 1978 in Bremen geboren. Seit seiner Ausbildung am Berliner Lette Verein arbeitet er in der Hauptstadt als freier Fotograf. Neben kommerziellen Arbeiten für Brands wie SEAT, Levi’s, MTV oder Etnies, waren seine Fotos in Magazinen wie FACE, YeYo Skateboarding, Kee Magazin Hong Kong, Playboy, Squint Homme, Kinki, SPEX, INTRO und BLANK zu sehen. 2015 war er neben Fotografen wie Ali Kepenek, Dorothea Tuch und Maxim Ballesteros Teil der von Johannes Finke kuratierten Ausstellung „Huckleberry/Berlin“. Seit dem ersten Lockdown in der Corona-Pandemie 2020 ist er neben Niels Ruf im Podcast „Sodom und Corona“ zu sehen und zu hören. Matthias David ist Vater eines Sohnes und lebt in Pankow.